Harte Landung

Der erste Fall von Patsy Logan

Carolin, am Abend

Es ist ihr Herz. Es schlägt zu schnell, zu flach. Etwas stimmt nicht damit. Wie auch? Nichts stimmt mehr. Überall schlechte Omen, düstere Vorzeichen. Schatten, die Gestalt annehmen und sich in Stellung bringen gegen sie.

Es gibt nur einen Weg. Den nach unten.

Nein! Sie braucht nur Luft. Sauerstoff.

In ihrem Brustkorb flattert es panisch. Sie wankt zum Fenster, öffnet es weit.

Luft. Sie braucht einen klaren Kopf, um all die ungebetenen Gedanken wieder daraus zu vertreiben. An Christian. An Hände, die sich in Hosentaschen zusammenballen wie muskulöse, haarlose Tiere. An Fäuste, die fliegen wollen, das Blut auf ihrer Zunge, Finger, die sich ins Fleisch ihrer Oberarme krallen.

Luft! Sie ringt nach Atem. Schließt die Augen, reißt sie wieder auf. Die Münchner Abendluft bringt keine Erleichterung, ist bleiern, unheilschwanger. Der Gedanke lässt sie laut auflachen, doch da ist kein Humor in ihrer Stimme, nur Hysterie. Sie sieht das Wetterleuchten hinter den Türmen der Frauenkirche. Dunkle Golems, die im Schutz der vorzeitig hereingebrochenen Dämmerung lauern. Unter ihr das dumpfe Stampfen von House-Musik. Stimmensalat auf der Terrasse zwei Stockwerke tiefer. Dieses Lachen, jung und unbeschwert. Dann das Knurren eines der Sicherheitsleute. Er treibt die Partygemeinde nach drinnen und schließt die Tür. Bloß keinen Ärger mit den Nachbarn.

Das Panzerglas tut seine Pflicht, Ruhe breitet sich aus. Unwillkommene Ruhe. Ihr Herzschlag steigert sich darin zu Trommelfeuer.

Die Luft hält ihr Versprechen nicht, kleidet ihre Lunge aus wie heißer Dampf. Sie stellt sich auf Zehenspitzen, lehnt sich weiter aus dem Fenster. Doch sie ist zu klein. Es bleibt stickig.

Ihr Büro ist jetzt fast vollständig in Dunkelheit getaucht, der Monitor ihres Computers längst im Stromsparmodus. Nur ein grüner Lichtpunkt pulsiert auf ihrem Schreibtisch. Eine neue Nachricht. Mitteilungen vom Ende der Welt. Der Rausch ist vorbei. Egal, welchen Weg sie jetzt geht, er führt nach unten.

In ihrem Brustkorb wird es eng.

Sie braucht Hilfe! Braucht sie Hilfe? Aber woher sollte die überhaupt kommen? Sie ist allein.

Stell dich nicht so an.

Panikattacken sind nichts Neues für sie. Einfach weiteratmen, dann wird es wieder. Wenn sie nur etwas mehr Luft be- käme.

Sie zieht einen der Stühle von ihrem Schreibtisch heran. Karges Design, edles Holz. Es knarrt unter ihren nackten Füßen. Der nächste Schritt, aufs Fensterbrett. Außer Atem klammert sie sich am Rahmen fest. Vor einem Jahr ist sie noch einen Halbmarathon gelaufen.

Jetzt lockt unter ihr der Abgrund. Zwei Altbaustockwerke bis auf Terrasse und Vordach, drei bis aufs Kopfsteinpflaster. Wie einfach es doch wäre, Ruhe zu finden.

Die Fenster des sanierten Altbaus sind hoch, ihr Scheitel reicht nicht einmal bis an den oberen Fensterrahmen. Ihr Kopf schwirrt. Es riecht nach Farbe. Die letzten Handwerker haben das Haus erst heute Vormittag verlassen.

Gierig saugt sie Luft ein, ihre Rippen ein engmaschiger Käfig, und schaut hinaus in das immer intensivere Wetterleuchten. Der Gewitterwind frischt weiter auf, lässt irgendwo ein Fenster in der Zugluft schlagen. Das Rauschen der Bäume, ihre Äste ächzen im Wind.

Das Donnergrollen kommt vom Stadtzentrum her, aus Richtung Osten. Dort hinten im Lehel, hinter sauber verputzten Fassaden kernsanierter Altbauten, liegen Fabian und Lia in ihren Betten. Hoffentlich ist Fabians Fieber wieder gesunken. Hoffentlich können die beiden schlafen. Gewitter sind noch etwas Neues und Furchterregendes für Lia, bringen sie jedes Mal zum Weinen. Warum ist sie nicht da, um ihre Kleine davor zu schützen?

Christian ist doch da.

Ihr Lächeln über den Gedanken an ihre Kinder bleibt im Ansatz stecken. Christian.

Die Dunkelheit in ihrem Rücken ballt sich. Ist jemand hier? In ihrem Büro?

Blödsinn. Reiß dich zusammen. Sie schüttelt den Kopf, reibt sich mit den Händen das Gesicht.

Dann ein Geräusch, das sie zusammenfahren lässt. Das Klicken einer Tür. So bereits hundertmal gehört an diesem Tag. Warum macht es ihr jetzt Angst?

Weil es jetzt einen guten Grund dafür gibt, Angst zu haben. Sie dreht sich um, sieht gerade noch, wie eine Gestalt aus dem Licht, das durch die Glastür auf den Boden fällt, in die Dunkelheit des Raumes schlüpft. Wer auch immer eben noch draußen auf dem Gang war, ist jetzt hier drin. Ein Schatten auf dem weißen Grund ihrer Bürowände. Sie erschrickt. Vor den glänzenden Zähnen. Den glitzernden Augen. Dem bekannten Gesicht. Was jetzt? Kämpfen oder fliehen?

Der Schatten macht einen Satz nach vorn, und ihr Herzschlag explodiert in ihrer Brust.