Prolog
Irgendwann musste Lucky erkennen, dass die Lage aussichtslos war. Der Angriff war kopflos, die Verteidigung kaum existent. Eine reine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kam. Und sie kam – in der zweiten Halbzeit. Ein haarsträubender Fehler der Celtic-Abwehr, und schon lagen die Rangers in Führung; und das mit nur zehn Mann.
Als Lucky seiner Empörung über so viel Stümperei freien Lauf ließ, glitt ihm sein Pint Lagerbier aus den von Kondenswasser feuchten Fingern und ergoss sich ausgerechnet in den Schoß seines Sitznachbarn, eines griesgrämigen Theken-Inventars alter Schule im Tweed-Jackett und mit sorgfältig polierten Schuhen.
„Was hab ich dir gesagt, du Glücksfee?“ Danny McCluskey hinter der Bar grinste unverschämt, während er aus einer Reihe von Pints zwei herauspflückte und vor Lucky stellte, eines als Ersatz für Lucky und eines zur Wiedergutmachung an den grollend in der Toilette verschwundenen Sitznachbarn. „Die Celtics kannste diese Saison vergessen. Galloway erst recht. Aber du meinst ja, du kannst Naturgesetze aufheben und wettest noch auf diese Verlierer.“
Lucky winkte ab und widmete sich seiner Zigarette. Zumindest in Marlboro Country war die Welt noch in Ordnung.
Eine halbe Stunde später war die Niederlage perfekt.
„Kopf hoch, Lucky.“ Danny war ein routinierter Tröster seiner Stammgäste. „Deine fünfzig Lappen gewinnste nächste Woche wieder zurück.“
Lucky zeigte ihm den Mittelfinger. Es ging hier nicht um 50 Pfund, sondern ums Prinzip. Abgesehen von der Tatsache, als Katholik im Belfast der 60er geboren worden zu sein, war Robert ‚Lucky‘ Callahan ein Glückskind. Tombolas, Sportwetten, Pokerspiele, Frauen – er hatte sie alle gewonnen. Noch nie hatte er richtig Pech gehabt. Noch nie. Was sollte das jetzt also?
Eine Weile blieb er sitzen, nippte an seinem Pint und beobachtete die Kommentatoren, ihre mahlenden Kiefer und hämisch geschürzten Lippen; fischte nach seiner Jacke unter der Theke, klatschte zehn Pfund auf die Bar. Danny McCluskey schüttelte den Kopf und wies fragend mit dem Kinn zur Uhr.
„Sorry, aber Theresa wartet auf mich.“
„Du Waschlappen“, tadelte Danny gutmütig. „Aber irgendwann erwischt es uns eben alle, das schöne Geschlecht. Wann ist es soweit bei ihr?“
„In vier Wochen. Hoffentlich früher. Ein Bierfass ist graziöser.“
Von Dannys rauhem Alkoholikerlachen begleitet, machte Lucky sich auf den Weg. Seit der letzten Bombenwarnung durch pro-britische Paramilitärs umgab ein Metallkäfig den Eingangsbereich von McCluskey’s Pub. Über eine Überwachungskamera kontrollierte Danny jeden Besucher, bevor er ihnen über eine Fernsteuerung die Tür öffnete. Lucky schnitt eine Grimasse in die Kamera, dann summte es in der Gittertür.
Die Nachtluft war feucht und schwer und viel zu kalt für September. Es roch nach Regen, der schon den ganzen Tag über in launischen Schauern niedergeprasselt war und gerade Atem holte für die nächste Attacke. Jetzt auch noch zu Fuß nach Hause. Sein bester Freund Dally und er hatten sich das mal ausgerechnet: Eine Zigarettenlänge die Divis Street und Westseite des Dunville-Parks hinunter, dann dreimal im Gehen durchatmen, die nächste anzünden, dann eine Zigaret- tenlänge die Grosvenor Road stadteinwärts, in die Roden Street, dann links, und er war zu Hause. Lucky grinste. Dally hatte heute eine ideale Gelegenheit verpasst, sich über sein Unglück lustig zu machen. Geschah ihm recht. Schon wieder die angeblichen Magenschmerzen. Entweder sie wurden tatsächlich alt, oder Dally versuchte sich aus dem Training übermorgen rauszureden. Die alte Memme sollte sich unterstehen. Er brauchte moralische Unterstützung. Immerhin musste er dann Liam wieder in die Augen sehen, zum ersten Mal seit der Sache vor drei Wochen.
Lucky hatte Dally schon damals um Rat gefragt, doch der hatte sich bloß hinter einem idiotischen Kommentar verschanzt.
Deine Adleraugen bringen uns noch alle ins Grab, Lucky. Vergiss die Sache lieber schnell.
Manchmal war Dally so ein Arschloch. Vielleicht hätte er es ihm gar nicht erzählen sollen. Aber er war auch Luckys Partner, und er vertraute ihm. Er wusste immer, was zu tun war. Seit der Florida Drive Operation stand er aber etwas neben sich. Guckte finster und zuckte die Achseln, wenn man ihn nach dem Grund fragte. Natürlich schob er alles auf die Trennung von seiner Frau Marie, doch Lucky glaubte ihm kein Wort. Es musste etwas anderes sein, das nicht stimmte.
Am Ende des Dunville-Parks geriet sein zäh gewordener Gedankenstrom ins Stocken. Etwas an der Reihe von Autos, die am Ostrand hinter dem Kinderspielplatz abgestellt waren, war anders – und gleichzeitig bekannt. Der Ford Transit. Er hatte ihn schon mal gesehen. Makellos weiß hatte er um die Ecke seines Hauses in der Brassey Street gestanden, als er sich auf den Weg zu McCluskey’s Pub gemacht hatte. Jetzt parkte der Transit genau zwischen den Federwippen. Unbeleuchtet, wie schon vorhin.
An der Innenseite seines Magens kratzte es. Umkehren? Danny ein Taxi holen lassen? Die Jungs im Pub würden sich bepinkeln vor Lachen über seine Feigheit. Und Dally ihn für den Rest des Lebens damit aufziehen.
Na komm, Mann. Fünf lausige Minuten.
Bevor er die Grosvenor Road überquerte, wandte er sich noch einmal dem Transit zu. In der Dunkelheit glänzte die Lackierung wie Perlmutt. Lucky schüttelte über sich selbst den Kopf. Hysterisch wie ein Weib.
Von der Grosvenor Road bog er in die Roden Street ab, eine ruhige Wohnstraße, zweigeteilt durch den „Westlink“-Autobahnzubringer auf die M1. Er hatte niemals einen Fuß auf die Roden Street jenseits des Westlinks gesetzt. Dort war ihr Gebiet. Die pro-britischen Loyalisten. Diener des Status quo, Handlanger der Besatzer. Im katholischen Teil der Straße ver- sperrte ein über und über mit Graffiti besprühter Wall aus Wellblech die Sicht. Überall Abkürzungen und trotzige Durchhalteparolen: Tod der loyalistischen UFF, Tod den Verrätern der IRA, Tod dem britischen Premierminister und der Königin gleich mit. Hässlich, doch zumindest ersparte es den Anblick, der sich von der Autobahn aus bot: Blau-weiß-rote Randsteine, Straßenlaternen mit träge flappenden Union Jacks, als seien sie noch immer erschöpft von den Oranier- Feierlichkeiten im Juli. Die zum Treueschwur erhobene rote Hand von Ulster.
Keine Kapitulation, dass er nicht lachte. Alles eine Frage der Zeit.
Hinter ihm näherte sich das schwerfällige Dieselgeräusch eines Lieferwagens. Er wandte sich noch im Gehen danach um. Scheinwerfer spiegelten sich auf der regennassen Straße und blendeten ihn. Der Transit vom Park, ganz sicher. Sie benutzten immer diese gesichtslosen Gefährte. Warum hatte er verdammt noch mal nicht auf sein Gefühl gehört?
Vor ihm lag der letzte Teilabschnitt nach Hause. Gerade mal 400 Yards. Hinter ihm 200 Yards zurück zur Grosvenor Road. Dazwischen der Transit und seine auf Fernlicht eingestellten Scheinwerfer, langsam rollend im Leerlauf, als suchte der Fahrer nach einer bestimmten Adresse. Lucky erhöhte sein Tempo. Sollte er um Hilfe rufen? Am Ende der Straße war noch Licht.
Der Transit war jetzt auf gleicher Höhe mit ihm. Plötzlich war überall nur noch Adrenalin, und er begann zu laufen. Da vorne war die Beschilderung der Verbindungsstraße in den Blackwater Way. Dort warteten sein Haus, Theresa, sein ungeborenes Kind. Sein ganzes bisschen Leben.
Mühelos überholte ihn der Transit, bog links in die Verbindungsstraße ein und blieb stehen. Aus dem Laderaum sprangen zwei maskierte Männer in Overalls. Einem von ihnen war der Anzug viel zu groß. Ihre Augen glitzerten wie Sterne in der dunklen Woll-Umrahmung. Zwei Pistolen und etwas, das wie eine Brechstange aussah.
Er schlug einen Haken nach rechts, rannte quer über die Straße, zurück in Richtung Grosvenor Road. Nicht hier. Nicht in ihrer Straße, wo Theresa es womöglich noch beobachten konnte. Auf der Grosvenor Road kreuzte unbeteiligt der Verkehr. Menschen auf dem Weg nach Hause, in den Nachtdienst, unterwegs im Alltag. Den Weg dahin versperrte ein alter Vauxhall Carlton, der dem Transit gefolgt war und sich quer gestellt hatte. Noch zwei Maskierte, diesmal in Militärkleidung und ohne Waffen. Schlechte Chancen zu entkommen. Trotzdem musste er es versuchen.
Mit einem Sprung auf die Motorhaube des Vauxhall versuchte er, die Barriere zur Grosvenor Road zu durchbrechen. Er war ein guter Läufer. Mit etwas Glück würden sie ihn zu Fuß nicht einholen. Mit etwas Glück.
Ihre Schritte schienen immer schneller zu werden. Sie rangen nach Luft, mit der grimmigen Entschlossenheit eines Wolfsrudels.
Er musste es schaffen, Theresa und dem Kleinen zuliebe. Er musste. Musste.
Hinter ihm keuchte es. Sie waren so verdammt schnell.
Eine Hand krallte sich an seiner Jeansjacke fest, dann noch eine. Eine dritte packte ihn am Arm, und er stolperte. Sie hielten ihn zurück, verhinderten seinen Sturz, stießen ihn wieder nach vorne. Lucky wand sich aus der Umklammerung eines Arms, fuhr herum und stieß seine Faust in das erste verfügbare Gesicht. Es knackte, und der Getroffene heulte auf. Unkontrollierte Kraft. Manchmal war sie eben doch was wert.
Er versuchte, sich endgültig loszureißen, doch inzwischen hatten die Typen aus dem Transit aufgeholt. Einer von ihnen überragte alle anderen, sogar Lucky. Sein Körperbau hatte etwas von einem Panzer. Lucky wollte sich abwenden, doch da rammte ihm der Panzer schon den Ellenbogen in den Magen.
Ende der Gegenwehr. Die Straßenbeleuchtung verdüsterte sich, die Häuser kippten um, und der Panzer wuchs zu einem Riesen. Vom Boden aus beobachtete Lucky, wie der Panzer mit dem Bein ausholte, zutrat und noch einmal ausholte. Er spürte nichts. Genau wie Superman. Fast hätte er gelacht. Dann explodierte etwas gleich neben seiner Wange, und dann war nichts mehr.