Das Letzte Kapitel
Keine Träume. Keine Erinnerung. Nur schwarz.
Und plötzlich so laut, irgendwo da draußen. Doch hier drin war er sicher versteckt. Seine Augenlider schwer, so schwer. Alles andere an seinem Körper auch. Sein Herz trommelte den trägen Rhythmus einer Sklavengaleere.
Das Geräusch wurde noch lauter. Lauter.
Aufhören, meine Ohren!
Mit Gewalt trennte er seine Lider voneinander, blinzelte in grelles Weiß. Er musste die Quelle dieser Lärmattacken finden und abstellen, und dann weiterschlafen hier in-
Ja, wo denn eigentlich?
Langsam verfestigten sich die Konturen vor ihm. Eine Menge Eisen. Gewichte, am Boden liegend und auf Stangen hängend. Das war nicht sein Arbeitszimmer, so viel stand fest. Das war überhaupt kein Zimmer, das er je zuvor gesehen hatte.
Die Sklavengaleere in seiner Brust geriet aus dem Takt. Durch ein Leck tropfte Adrenalin. Zu wenig für koordinierte Handlungen, aber genug, um mit dem Nachdenken zu beginnen.
Zuerst mal die verbürgten Fakten.
– Mein Name ist Tarek Waldmann.
Letzte Erinnerung vor der Dunkelheit?
– Ich stehe unter Mordverdacht.
Das Leck in der Galeere wurde größer. Panik sprudelte herein.
– Ganz ruhig, nochmal von vorn. Ich war in Helgas Wohnung. Seit zwei Tagen ist Helga meine Mutter. Sie wollte das letzte Kapitel meiner Geschichte erzählen und mir alles erklären.
Er schnaubte ein Lachen. Seit es zu spät war, wollten ihm ständig alle alles erklären.
Er hatte die Tür zu Helgas Küche aufgestoßen, sein Inneres wie aus Lava. In aller Ruhe hatte sie die Tür des kleinen Öfchens in der Ecke zugeklappt, sich nach ihm umgedreht, die rußigen Finger an ihrer marineblauen Stoffhose abgewischt und ihn angesehen. Ein Lächeln, das ihn kannte.
Und plötzlich lag er hier, der Graben zu den Ereignissen in Helgas Küche unergründlich tief. Den jetzt überbrücken? Wie anstrengend. Besser, er legte sich wieder schlafen. Er räkelte sich in eine bequemere Position, doch sein Rücken stieß an eine weiche Barriere. Da war noch jemand. Ein Arm lag besitzergreifend um seinen Oberkörper geschlungen, eine Hand zusammengerollt vor seiner Brust.
Lina und ihr verzweifeltes Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Die Umarmungen seiner Freundin hatten inzwischen was von einem Heimlich-Manöver. Er zog die Hand und den dazugehörigen Arm an seine Brust wie den Zipfel einer Decke, wollte sich stärker in den Körper hinter ihm einwickeln. Niemand leistete Widerstand.
Fühlt sich das hier etwa wie Lina an?, flüsterte es in ihm. Oder irgendwie lebendig?
Er blinzelte erneut, richtete sich auf und betrachtete die Hand in seiner eigenen. Gerade, kräftige Finger. Erste Gichtknoten, Altersflecken. Eindeutig nicht Lina. Ohne die Hand loszulassen, warf er einen Blick über seine Schulter.
Tatsächlich, es war Helga. Da lag seine Mutter und schlief. Ihr Arm war seltsam verdreht in seinem Griff. Sie schien das nicht zu stören.
Er zog daran, schüttelte sie hin und her. Doch er wusste, welche Reaktion ihn erwartete. Mit Toten hatte er inzwischen Erfahrung. Die wachten nicht so schnell wieder auf.
Zwei in zwei Tagen, Tarek. Was wird die Wiener Kripo dazu sagen?
Wieder rammten sich Rasierklingen durch seine Trommelfelle. Eine Türklingel, schrill und fordernd. Jemand klopfte mit der Faust. Rüttelte an einer Tür. Rief Tareks Namen – er solle endlich aufmachen!
Adrenalin begann sein Herz zu schubsen. Ihn anzubrüllen, dass es jetzt höchste Zeit war, Angst zu haben. Zu begreifen, dass in seiner Geschichte niemand glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage lebte, schon gar nicht jemand, der mit beiden Händen in ihrer Tinte steckte. Dass er etwas tun musste, jetzt sofort!
Er konnte nicht. Etwas hatte seine Energie und seinen Verstand aneinandergekettet und in einem gläsernen Wassertank versenkt. Da saß er nun und beobachtete sie bei ihrem immer panischeren Kampf, sich zu befreien bevor es zu spät war. Entfesselungskünstler sahen anders aus. Er hob einen Mundwinkel zu einem resignierten Lächeln und tätschelte Helgas Hand. Mami, dachte er verschwommen. Was haben wir da nur getan?