Prolog – Das letzte Kapitel
Keine Träume. Keine Erinnerung. Nur schwarz.
Und jetzt plötzlich so laut, irgendwo da draußen. Doch hier drin war er sicher versteckt. Seine Augenlider schwer, so schwer. Alles andere an seinem Körper auch. Sein Herz trommelte den trägen Rhythmus einer Sklavengaleere.
Das Geräusch wurde noch lauter. LAUTER.
Aufhören, meine Ohren!
Seine Lider schienen miteinander vernäht zu sein, doch er trennte sie mit Gewalt voneinander, öffnete die Augen, blinzelte in grelles Weiß. Alles war besser als das unberechenbare An und Aus dieser Lärmattacken. Er musste ihre Quelle finden und abstellen, und dann endlich weiterschlafen hier in-
Ja, wo denn eigentlich?
Langsam verfestigten sich die Konturen vor ihm. Eine Menge Eisen. Gewichte, am Boden liegend und auf Stangen hängend. Das war nicht sein Arbeitszimmer, so viel stand fest. Das war überhaupt kein Zimmer, das er je zuvor gesehen hatte.
Die Sklavengaleere in seiner Brust geriet aus dem Takt. Durch ein Leck tropfte Adrenalin. Zu wenig für koordinierte Handlungen, aber genug, um mit dem Nachdenken zu beginnen. Er schloss die Augen wieder. Zuerst mal die verbürgten Fakten.
– Mein Name ist Tarek Waldmann.
Guter Anfang. Jetzt schrittweise die letzten Ereignisse nachvollziehen. Das war ihm schon als Kind eingetrichtert worden, falls er mal wieder seine ledrig-unkuschelige E.T.-Puppe irgendwo verschlampt hatte.
Letzte Erinnerung vor der Dunkelheit?
– Ich stehe unter Mordverdacht.
Das Leck in der Galeere wurde größer. Tropf, tropf, tropf.
– Geht’s vielleicht auch etwas konstruktiver mit dem Erinnern?
Na gut, nochmal von vorn. Letzte Erinnerung vor der Dunkelheit?
– Ich war in Helgas Wohnung. Seit zwei Tagen ist Helga meine Mutter. Sie wollte das letzte Kapitel meiner Geschichte erzählen und mir alles erklären.
Er schnaubte ein Lachen. Seit es zu spät war, wollten ihm ständig alle alles erklären.
Er hatte die Tür zu Helgas Küche aufgestoßen, sein Inneres wie aus Lava. In aller Ruhe hatte Helga die Tür des kleinen Öfchens in der Ecke zugeklappt, sich nach ihm umgedreht, die rußigen Finger an ihrer marineblauen Stoffhose abgewischt und ihn angesehen. Ein Lächeln, das ihn kannte.
Und plötzlich lag er hier, der Graben zwischen ihm und Helga in ihrer Küche unergründlich tief. Den jetzt überbrücken? Wie anstrengend. Besser, er legte sich wieder schlafen. Er räkelte sich in eine bequemere Position, stieß jedoch mit dem Rücken an eine weiche Barriere.
Da war noch jemand. Ein Arm lag schwer und besitzergreifend um seinen Oberkörper geschlungen, eine Hand zusammengerollt vor seiner Brust. Er nahm sie, schmunzelte. Lina und ihr verzweifeltes Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Ihre Umarmungen hatten inzwischen schon was von einem Heimlich-Manöver. Er zog die Hand und den dazugehörigen Arm an seine Brust wie den Zipfel einer Decke, wollte sich stärker in den Körper hinter ihm einwickeln. Niemand leistete Widerstand.
Fühlt sich das hier etwa wie Lina an?, flüsterte es in ihm. Oder irgendwie lebendig?
Er blinzelte erneut, richtete sich auf und betrachtete die Hand in seiner eigenen. Finger kräftig, doch gerade. Altersflecken. Eindeutig nicht Lina. Ohne die Hand loszulassen, warf er einen Blick über seine Schulter.
Tatsächlich, es war Helga. Da lag seine Mutter und schlief. Ihr Arm war seltsam verdreht in seinem Griff. Sie schien das nicht zu stören. Er zog daran, schüttelte sie hin und her. Doch er wusste, welche Reaktion ihn erwartete. Mit Toten hatte er inzwischen Erfahrung. Die wachten nicht so schnell wieder auf.
Zwei in zwei Tagen, Tarek. Was werden wohl die beiden freundlichen Inspektoren von der Wiener Kripo dazu sagen?
Wieder rammten sich doppelschneidige Klingen durch seine Trommelfelle. Eine Türklingel, schrill und fordernd. Jemand klopfte mit den Fingern und mit der Faust. Rüttelte an einer ebenso knarzigen wie stabilen Tür. Rief Tareks Namen – er solle endlich aufmachen!
Adrenalin begann sein Herz zu schubsen. Ihn anzubrüllen, dass es jetzt höchste Zeit war, Angst zu haben. Zu begreifen, dass in Helgas Geschichte niemand glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage lebte, schon gar nicht jemand, der mit beiden Händen in ihrer Tinte steckte. Dass er etwas tun musste, dammit, jetzt sofort!
Er konnte nicht. Etwas hatte seine Energie und seinen Verstand aneinandergekettet und in einem gläsernen Wassertank versenkt. Da saß er nun und beobachtete sie bei ihrem immer panischeren Kampf, ihm zu erklären, wer sie in diese Lage gebracht hatte, sich zu befreien bevor es zu spät war. Houdini sah anders aus. Er hob einen Mundwinkel zu einem resignierten Lächeln und tätschelte Helgas Hand.
Mami, dachte er verschwommen. Was haben wir da bloß getan?
Kapitel 1 – Der Biograf ohne Geschichte
Sonntag, 27. Dezember
Hermann, heute hab ich unseren Jungen gefunden. Einfach so, als hätte er schon immer auf mich gewartet, da vor meiner Nase, und ich hab ihn übersehen. Sonst spür ich doch immer schon vorher, wenn was Großes im Anzug ist. Kannst Du Dich erinnern, wie damals Papa gestorben ist? Zweihundert Kilometer weg war er, und kerngesund, als wir ihn und Mutti besucht haben. Und ich sag noch beim Frühstück zu Dir, daß ich geträumt hab, daß wir ihn verlieren, und Du sagst, was für ein Blödsinn, haste gesehen, wie der ausgesehen hat am Sonntag? Der wird uns alle überleben, hast Du gesagt, und dann klingelt schon Mutti durch. Weißt Du noch? Ich hab eine Antenne für solche Sachen.
Aber heute war alles wie immer, mal abgesehen davon, daß es seit heut Morgen wieder schneit. Aber das zählt ja nicht, ist doch Winter. Kälter ist es auch geworden, aber das zählt genauso wenig. Natürlich musste ich das Masopusts aus der Mezzannin-Wohnung gleich unter die Nase reiben, denn die hatten letzte Woche behauptet, daß der Winter für dieses Jahr schon abgedankt hätte, ein Null-Ereignis, ein Rohrkrepierer (das Lieblingswort vom alten Masopust, und sie plappert immer alles nach, als gäb’s sowas wie Emanzipation gar nicht).
Aber ich sage, wenn schon Krise, dann richtig dicke. Kenn ich nur so. Das Unglück hat immer noch ein paar verrotzte Geschwister im Schlepptau. Das habe ich ihnen gesagt, als ich sie mit ihrer ausgefressenen Töle an den Mülltonnen getroffen habe. Über diesen Winter werden wir uns noch wundern, sag ich, genauso wie über die Krise. Der olle Masopust hat bloß geschmatzt und seinen Kiefer verschoben, als würde sich seine Prothese endgültig selbstständig machen.
Die Lutzi muss jetzt aber wirklich äußerln, sonst passiert ein Unglück, sagt er, dann sind sie abgedampft wie die Lokomotiven, alle mehr breit wie hoch, und auf die ‘Schönen Feiertage’ haben sie auch vergessen.
Das war also der Höhepunkt des Tages. Der Rest war so wie alle, seitdem Du weg bist.
Und dann taucht unser Junge vor mir im Computer auf. Ich hab sofort gewusst, das kann nur er sein. Dieser aufgesetzte, verlogene Name, den diese Leute ihm aufgedrückt haben … so oft kanns den nicht geben auf dieser Welt. Vor Schreck hab ich den Computer gleich zugeklappt, und als ich den Deckel wieder aufmache, war immer noch alles schwarz. Eine Weile hatte ich Panik, ob er jetzt für immer verschwunden bleibt, und das die letzte vertane Chance war. Blödsinn, natürlich war er nicht weg, aber in dem Moment …
Nach ein paar Tassen FixFenchel und einer Runde im Beserlpark gings aber wieder, und ich hab meine Notizen aus diesem Computerkurs für Gereatriker durchgeackert. Das hätten auch Hieroglyphen sein können, sag ich dir. Dieser junge Mann im Schnupperkurs hat mit Fremdworten grade so um sich gehauen, die meisten natürlich Englisch. Er war so schnell, daß ich mal nur mitgeschrieben hab und jetzt steht das Zeug da und hilft mir genau Nullkommajosef, wie die hier immer sagen.
Glaub bloß nicht, daß die letzten zwanzig Jahre viel verändert haben. Nur die Methoden, mit denen wir eingeschüchtert werden, und die Unterdrücker. Was früher die Partei war, sind jetzt die Jungen, die uns Alten Angst machen mit ihrer Technik, den Geheimsprachen und Pfeilen, die man unmöglich kontrollieren kann, weil sie so schnell flitzen. Was früher im Osten war ist jetzt überall wo man sich modern schimpft. Mit Computern halten sie uns in Schach, so wie die Stasi damals, sag ich Dir. Trotzdem hab ich es geschafft, einen Brief zu schreiben. Nichts besonderes, nur ein paar Zeilen. Die haben mich einen Nachmittag Nachdenken gekostet, und elf Seiten voller Entwürfe.
Das hatte weniger mit der Aufregung zu tun, sondern mit dem Plan. Den gibt’s jetzt nämlich, und zwar genau seit ich mir die Internet-Seite unseres Jungen angeguckt habe, und das gründlich. Biograf, also wirklich. Von so einem Beruf soll einer mal gehört haben. Aber man kann was draus machen, wenn meine Nerven mitspielen. Bin mir im Moment zwar wieder nicht sicher, ob ich alles übers Herz bringe … dabei hat gerade dieses blöde Teil mir all die Jahre schon gesagt, was zu tun ist, und meistens war es richtig. Das soll mir einer verstehen. Aber noch ist ja Zeit.
Zurückgemeldet hat er sich jedenfalls, da hatte ich mir noch nicht mal den Schweiß vom Gesicht gewischt. Ich konnte es nicht fassen. Die erste Begegnung mit unserem Jungen!
Ich weiß, ich weiß … eine Stimme am Telefon ist keine wirkliche Begegnung, sagst Du jetzt sicher. Das ist nicht mehr als unruhige Luft, zerhackt und in eine Leitung gezwängt und am anderen Ende wieder zusammen gesetzt. Nichts was man greifen, noch nicht mal was, das man angucken kann. Mal abgesehen von Deinem noch immer fehlenden Verständnis dafür, wie ein mickriger Augenblick ein ganzes Leben zusammenpacken und von einer Klippe stürzen kann, hast Du Recht.
Es war nur seine Stimme, und das nur ein paar Minuten. Aber mehr als eine Stimme hätte ich auch nicht ertragen. Noch nicht.
Denn ich schwöre Dir, unser Junge klingt wie Du. Es raspelt immer ein bisschen, wenn er zum Sprechen ansetzt, als müsste sich der Motor erst warmlaufen.
Es ist, als würde ich Dich reden hören; jedes Mal, wenn er sich räuspert, so wie du auch immer, waren meine Knie nur noch ein Haufen Pudding. Aber nur im Kopf, denn der Rest war die komplette Salzsäule, verstehste?
Zum Glück dauerte unser Gespräch nicht lange, und Pausen gabs auch nicht viele. Er quasselt eine Menge, unser Junge. Er lebt in Irland, hat er mir erzählt, als hätte ich das nicht schon längst gewusst. Vielleicht hat er deshalb auch diesen komischen Akzent. Seine ‚r’s kommen nicht aus dem Rachen, sondern von irgendwo unter der Zunge, und an die ‚E’s klingen, als würde ein Ypsilon dranhängen, und an den O’s ein ‚U‘. Trotzdem ist er so wortgewandt, ich war völlig von den Socken.
Ich frag mich, woher er das hat. Vielleicht von Onkel Richard? Aber nee. Der hat uns doch immer zu Tode gelangweilt mit seinen Gedichten zu jeder blöden Familienversammlung. Der olle Richard … also, nee.
Gehört wahrscheinlich zum Beruf, daß unser Junge gut kann mit Worten. Natürlich hatte er es leichter als ich. Er musste ja nicht so tun, als wären wir einfach nur Fremde, die ins Geschäft kommen wollen.
Aber ich sag Dir, er hat auch was gespürt. Denn als ich ihn frage, warum er ausgerechnet Biografien schreibt, hats unserem Jungen zum ersten Mal kurz die Sprache verschlagen. Und weißt Du, was dann kam?
Ich habe keine Geschichte, sagt er, deshalb schreibe ich die der anderen auf.
Wie gedruckt, wa? Musste fast lachen. So ein hochgestochenes Geschwätz. Das erzählt er wahrscheinlich jedem. Aber ich hab mich zurückgehalten, und sogar eine Antwort zustande gekriegt, da wärste stolz auf mich gewesen.
Keine Sorge, sag ich, ich hab genug Geschichte für uns beide, und er hat gelacht darüber. Das war das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen hab zu diesem grausamen Fest. Tut mir Leid, daß ich Dir das jetzt so sage, Hermann, aber Deine Geschenke waren ja das Grausame daran. Aber sie waren immer so im Schweiße des Angesichts falsch ausgesucht, da hab ich mich nicht getraut, was zu sagen. Ja ja, ganz gegen meine Natur, ich weiß.
Na jedenfalls, unser Junge hat gelacht, und am liebsten hätte ich es ihm auch gesagt. Daß er zwar kichert wie so’n Mädchen, aber daß mir das egal ist, weil das allein ist schon Weihnachten für mich. Zum Abschied hat er nochmal gelacht. Er freut sich drauf, mich kennen zu lernen.
Es stimmt also. Er hat keine Ahnung, von nichts.
Den restlichen Abend hab ich geheult, und trainiert, und trainiert und geheult, alles gleichzeitig. Aber diesmal zum allerletzten Mal, das weiß ich inzwischen. Denn heute hab ich unseren Jungen gefunden. Und ab morgen sorge ich dafür, daß er alles zurückbekommt, was uns diese Leute gestohlen haben. Die Wahrheit, jedes einzelne Kapitel davon.