Warum gibt es diesen Artikel? Muss ich ihn auswendig lernen, um WIE DU MIR lesen zu können?
Nein. Die Geschichte von Dally und Will handelt von Rache, Verlust, Reue und Verrat. Ziemlich alltägliche Themen also. Den Hintergrund dafür bildet der Nordirlandkonflikt. Dieser Artikel ist für all jene Leser gedacht, die gerne genauer über die Umstände Bescheid wissen wollen, in denen sich die Protagonisten des Romans bewegen. Und auch für jüngere Leser, die den Nordirlandkonflikt kaum kennen aber mehr erfahren wollen.
Cool. Das heißt, ich erspare mir damit ein irisches Geschichtsbuch?
Leider nein. Das Tauziehen um die Herrschaft über die Insel geht bis ins 13. Jahrhundert zurück und beinhaltet unzählige blutige Schlachten sowie eine Menge Jahreszahlen. Ich beschränke mich rein auf die für das Buch relevanten Themen – so verständlich wie möglich. Also – kein Anspruch auf 100%ige Vollständigkeit!
Wann begann der Nordirlandkonflikt und wie lange dauert(e) er?
Als Nordirlandkonflikt werden vor allem die Jahre 1968 bis 1998 bezeichnet. In diesem Zeitraum fand die Mehrzahl der Gewalttätigkeiten statt. Auch wenn seit dem Karfreitagsabkommen/Belfaster Abkommen 1998 noch eine dreistellige Zahl von Menschen ums Leben kamen (allein 1998 bis 2001 waren es fast 100, derzeit eine Handvoll jährlich), spricht man seitdem offiziell nur noch vom „Nordirischen Friedensprozess“.
Ist der Nordirlandkonflikt einer zwischen Protestanten und Katholiken?
Trotz der religiösen Trennung der Konfliktparteien ging es nicht primär um Religion. Sondern um den Verbleib der nordirischen Provinz und seiner 1,5 Millionen Einwohner bei Großbritannien oder um deren Vereinigung mit der Republik Irland, die erst 1921 Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte.
Der katholische Bevölkerungsteil (knapp unter 50%) wollte tendenziell eine Vereinigung, die der protestantische Bevölkerungsteil (knapp über 50%) tendenziell ablehnte.
Warum ablehnen? Was ist so schlimm daran, zu Irland zu gehören?
Das Irland der Konfliktzeiten war ein dauerkriselndes, wirtschaftliches Armenhaus und noch stark vom konservativen Katholizismus geprägt. Infrastruktur und Gesundheitswesen waren schwächer ausgebaut als in Großbritannien, Scheidung, Verhütung und Abtreibung verboten. In vielen Gemeinden hatten die Priester das Sagen. Das war eine Horrorvision für die Protestanten, die sich als moderner und fortschrittlicher sahen. Außerdem fühlen sich viele nordirische Protestanten mehr der britischen Tradition und Mentalität verbunden und fürchten, zu einer Minderheit im eigenen Staat zu werden.
Sind denn die nordirischen Protestanten nicht auch Iren?
Geografisch ja, aber mit unterschiedlichen Wurzeln. Anfang des 17. Jahrhunderts wurden schottische und englische Protestanten im bis dahin stark gälisch-katholisch geprägten Teil von Irland angesiedelt („Plantation“), um die Herrschaft von England zu zementieren. Ihnen wurde zuvor enteignetes Land zugesprochen, sie selbst zur Hochhaltung der englischen Sprache und Traditionen verpflichtet. Die heutige protestantische Gemeinde sind ihre Nachkommen.
Was gab letztendlich den Ausschlag für den Nordirlandkonflikt ab 1968?
Um zu verhindern, dass die rasch wachsende katholische Bevölkerung die Vereinigung Irlands eines Tages politisch erzwingen konnte, wurden nordirische Wahlkreise manipuliert, wichtige Ämter sowie auch Jobs und bessere Wohnungen vor allem an Protestanten vergeben. Ende der 60er begann sich in der katholischen Bevölkerung – zunächst friedlicher – Widerstand zu formieren. Die Reaktion der (vor allem protestantisch besetzten) Ordnungskräfte auf Demonstrationen war jedoch sehr brutal. Die aufgeheizte Stimmung entlud sich in tagelangen Straßenschlachten. Im Sommer 1969 wurden hunderte katholische Familien in ärmlicheren Wohnvierteln von ihren protestantischen Nachbarn aus ihren Häusern vertrieben, die Häuser wurden abgebrannt. Um in dem Chaos die Bevölkerung zu schützen, wurde vorübergehend die britische Armee zur Hilfe gerufen. Sie blieben bis 2007.
Wie war die Situation zum Zeitpunkt der Handlung von WIE DU MIR?
Der Herbst 1993 war eines der blutigsten Kapitel des Konfliktes. Zwischen September und November kamen 35 Personen im Schlagabtausch zwischen IRA (= radikal pro-irisch) und ihren loyalistischen (= radikal pro-britischen) Gegenorganisationen ums Leben. Allein die Anschläge auf der Shankill Road sowie in Greysteel, die in den Kapiteln Bomben und Granaten sowie Unheimliche Begegnung der Dritten Art eine Rolle spielen, hinterließen 18 Tote, bis auf ein IRA-Mitglied ausschließlich unschuldige Passanten/Barbesucher.
Die tragische Ironie dabei: Der obersten Führung der IRA und deren politische Parteivertreter (Sinn Feín – „Wir selbst“) sowie der britischen Regierung unter John Major war zu jener Zeit längst klar, dass der endlose Konflikt für keine der beiden Seiten zu gewinnen war. Schon seit Sommer 1993 suchte man unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach einem Weg aus der Misere. Ende November 1993, nur 2 Wochen nach Ende der Handlung von WIE DU MIR, wurden diese Geheimverhandlungen in den Medien bekannt.
Die IRA selbst war durch die immer moderneren Spionage- und Überwachungsmethoden der Sicherheitskräfte, immer weniger Unterstützung aus der kriegsmüden Bevölkerung bzw. durch Informanten in den eigenen Reihen stark unter Druck. Der Graben zwischen dem Lager, das eine politische Lösung mit Großbritannien anstrebte und den „Hardlinern“, die dies als Verrat an der gesamtirischen Idee sahen, wurde zusehends tiefer.
Wer sind die im Roman relevanten Konfliktparteien, und wer der Charaktere kämpft für welche Seite?
Pro-Irland:
IRA (Irisch Republikanische Armee – auch Provisional IRA oder „Provos“ genannt)– (illegale) paramilitärische Organisation, die anfangs den Abzug des britischen Militärs und in weiterer Folge die Vereinigung Irlands mit Gewalt und Terror erzwingen wollte; später wurden die Anschläge zum Druckmittel, um der Sinn Feín-Partei (der politische Arm der IRA) mehr Macht am Verhandlungstisch zu verleihen.
Die Kommandostrukturen und Organisation folgten teils militärischem Vorbild, teils dem von Guerilla-Zellen.
Sogenannte Freiwillige/Volunteers (Dally „JR“ Ferguson, „Lucky“ Callahan, Rory Sullivan, Fintan O’Dwyer, Rooster Reilly) wurden von ihren Kommandanten (Pat Doherty) zu Aktiven Einheiten zusammengestellt. Sie führten Anschläge auf zuvor von einem Informationsoffizier (Liam Sullivan) ausgewählte Ziele aus.
Aufgabe der Internen Sicherheit (Brian Hanlon, Gerard Rooney, Eamonn Flynn) war die Überführung und Sanktionierung von IRA-Mitgliedern, die mit den nordirischen Sicherheitskräften bzw. dem britischen Militär zusammenarbeiteten. Denn auf diesen Verrat stand laut Gesetz der IRA der Tod.
Pro-Britisch:
UFF (Ulster Freedom Fighters): Die illegale „Tarnorganisation“ der radikal anti-irischen, aber bis 1992 offiziell legalen paramilitärischen Organisation UDA (Ulster Defence Association). Die UFF führte Anschläge auf IRA-Mitglieder und auch auf die katholische Zivilbevölkerung aus, da sie diese global als IRA-Sympathisanten einstufte. (Charaktere: Joe Donaldson, Billy Bilson)
Nordirische Polizei
1993 noch RUC – Royal Ulster Constabulary, genannt.
Wie andere Sicherheitskräfte verfügte der RUC über einen uniformierten Teil, die Kriminalabteilung CID (Criminal Investigation Department; Will McCrea) sowie auf die Terrorbekämpfung spezialisierten „Special Branch“ (Hugh Hackney). Ihre Arbeit überlappte naturgemäß häufig, wobei die „geheimen“ Interessen des Special Branch meist als strategisch wichtiger galten und jenen des CID vorgezogen wurden. Dementsprechend oft gab es Kompetenzüberschneidungen und Konflikte.
Der weitaus überwiegende Teil der Mitarbeiter im RUC waren zu jener Zeit Protestanten.
Darüber hinaus befasste sich auch die Britische Armee sowie der Britische Geheimdienst (MI 5) mit der Terrorbekämpfung. Oft über die Köpfe der nordirischen Polizei hinweg.
Warum sprechen Dally und andere Mitglieder der IRA oft Gälisch miteinander?
Bis ins 19. Jahrhundert war Gälisch die irische Hauptsprache. Eine Mischung aus britischer Intervention (Verbot der Sprache) sowie die Abwendung der irischen Eliten vom „altmodischen“ Gälisch ließen die Sprache unter den Iren beinahe aussterben. Innerhalb der IRA wurde Gälisch als Sinnbild des Widerstandes und Beharrens auf irischen Traditionen gesehen – und nicht zuletzt als „Geheimsprache“ verwendet, um von den oft mit- und abhörenden britischen/nordirischen Sicherheitskräften nicht verstanden zu werden.
Wer oder was waren legitime Ziele der IRA?
• Öffentliche Einrichtungen und Infrastrukturen, die von den britischen „Besatzern“ genutzt wurden
• alle Mitglieder der nordirischen Polizei, unabhängig von der Konfession (katholische Polizisten wurden als Verräter betrachtet)
• Mitglieder loyalistischer Organisationen
• IRA-Mitglieder und Zivilpersonen, die im Verdacht standen, mit den Besatzern zu kollaborieren
Quellen:
A Concise History of Ireland, Seán Duffy
The IRA, Tim Pat Coogan
Killing Rage, Eamon Collins
